
Ich bin ein riesiger Disney- und Pixar-Fan. Aber unter den zahlreichen Prinzessinnenmärchen gibt es einen Film, den ich besonders gern habe – „Alles steht Kopf“. Die Geschichte ist sozusagen aus der Sicht unseres Gehirns geschrieben. Vor einer mit Knöpfen und Hebeln übersäten Schaltzentrale sitzen mehrere Figuren, unsere Emotionen: Freude, Wut, Trauer, Ekel, Angst, Scham, … Sie steuern das Denken und Handeln der jungen Teenagerin Riley und verarbeiten all ihre Erlebnisse. Jede Erinnerung wird, verbunden mit einem Gefühl, in einen großen Gehirnspeicher geschickt. Außer es handelt sich um ein besonders prägendes Erlebnis. Dann entsteht eine goldene Kugel, die als ganz einschneidende Erinnerung aufbewahrt wird.
Mein Freiwilligendienst in Kolumbien ist für mich schon jetzt so eine goldene Kugel. Außerdem kann ich den Filmtitel nur unterstreichen. In meiner Schaltzentrale steht, seit meiner Ankunft alles ordentlich Kopf.
Bevor ich allerdings ein paar Einblicke in meine persönliche Gedankenwelt gebe, will ich mich kurz vorstellen. Ich heiße Sophia Kaden und komme aus einem kleinen Dorf im Erzgebirge. Dort habe ich meine Freizeit meistens mit Mathematik, Singen oder Stricken verbracht :). Seit dem 03. September hat sich mein Alltag aber ganz schön auf den Kopf gestellt. Ich bin in den Flieger Richtung Cali gestiegen.
Angefangen hat alles mit dem Wunsch, etwas zu lernen, was kein Schulbuch der Welt fassen kann. Deshalb habe ich mich nach dem Abitur für einen Freiwilligendienst im Ausland entschieden. Es wurde schließlich Kolumbien 🙂 Puuh, habe ich gedacht. Ganz schön weit weg und ganz schön anders. Werde ich überhaupt einen Platz in dieser riesengroßen Stadt Cali finden? In welche kulturellen Fallen werde ich wohl tappen? Und häufig wurde ich gefragt: Ist das nicht total gefährlich?
Ja. Sogar ziemlich. Hochrisikogebiet: Lebensfreude. Es besteht die akute Gefahr einer chronischen Infektion 🙂
Kolumbien ist wahnsinnig laut, bunt und wild. Das habe ich schon während der ersten Autofahrt vom Flughafen Richtung Gastfamilie bemerkt. Verkehrsregeln? So gut wie keine. Dafür sind die Straßen von bunten Blumen und meterhohen Palmen gesäumt. Die Stadt steht nie still. Immer hört man von irgendwo her Salsamusik. Es wird immer getanzt. Dann übernimmt meistens „Freude“ das Steuer in meiner Schaltzentrale. Ich bin so glücklich und dankbar, wenn ich durch die bunten Berge von Obst und Gemüse in den Markthallen laufe oder mir nach einem Salsaabend die Füße weh tun. Die Kolumbianer haben immer Platz für offene Arme und eine spontane Einladung.
Besonders einprägsam war für mich die erste Woche (03.-10. September), die ich bei einer Gastfamilie im Zentrum von Cali verbracht habe. Durch sie durfte ich ein Stück kolumbianischen Alltag kennenlernen. Sie haben mir die paradiesische Natur in Pance gezeigt, mir jede Menge typisches Essen auf den Teller gelegt und mich die herzliche Gastfreundschaft der Kolumbianer spüren lassen. Der Abschied ist mir nach diesen 7 Tagen richtig schwergefallen. Doch es hieß weiter richtung Süden der Stadt, wo ich jetzt in einer Mädels-WG mit meiner Mitfreiwilligen Leen und der Kolumbianerin Stefania wohne. Diese Gemeinschaft genieße ich sehr 🙂 – eine Kugel voller Freude mehr 🙂
Doch ziemlich oft fehlten mir hier sprichwörtlich die Worte, um das Erlebte zu beschreiben. Da steht auch mal alles Kopf. Eine solche Situation war der erste Tag in unserer Einsatzstelle, der Schule „La Providencia“. An diesem Tag hat meine Schaltzentrale im Gehirn glaube ich vollkommen verrückt gespielt. Da waren Trauben von neugierigen Kindern, die fröhlich durcheinander plapperten und einer hatte mehr Fragen als der Andere. Da war ich mit meinem Schulspanisch schnell am Ende. Gleichzeitig so viele neue Eindrücke. Wie sehen die Klassenzimmer aus? Wie läuft so ein Unterricht hier ab? Über die letzten 7 Wochen hat sich vermutlich eine ganze Murmelsammlung an bunten Erinnerungen gebildet.

Dazu gehören kleine und große Erfolgserlebnisse. Normalerweise helfe ich im Mathematikunterricht der 7. und 8. Klassen mit. Hier haben viele Schüler Schwierigkeiten das Gelernte zu verstehen und sich zu konzentrieren. Deshalb freut es mich sehr, wenn ich beim Korrigieren ihrer Hausaufgaben merke, dass manche Betreuung im Unterricht Erfolg zeigt. Außerdem geht mir besonders das Herz auf, wenn ich im Kindergarten eingesetzt werde. Die Kleinen freuen sich immer riesig über eine Umarmung und drücken mir meistens mit süßen, klebrigen Fingern ein Bonbon zur Begrüßung in die Hand. Was für ein Geschenk 🙂
Trotzdem habe ich schon vorweggenommen, dass meine Schaltzentrale auch ab und zu Alarmzustand ausruft. Das passiert zum Beispiel, wenn ich sprachlich mit den Kindern nicht weiterkomme und einfach nicht verstehen kann, was sie mich fragen wollen. Das ist manchmal sehr frustrierend, zumal sie sich erst an meinen Akzent gewöhnen mussten. Ebenso ist mir durchaus bewusst, dass sich die Schule in einem sehr vulnerablen Stadtviertel befindet. Nicht selten fangen Schüler an zu weinen. Manchmal aus Angst davor, was passiert, wenn sie eine schlechte Note mit nach Hause bringen. Häufig aber dann, wenn sie anfangen, von ihrem Zuhause zu erzählen. Es sind nicht alle, aber es sind viele. Dann macht sich in mir eine Mischung aus Trauer und Wut breit und an manchen Tagen fällt es mir schwer, mit diesen Eindrücken einen guten Umgang zu finden.
Diese Seite Kolumbiens gehört eben auch zur Wahrheit. Hinter den lebensfrohen Gesichtern und wilden Tanzschritten verbirgt sich auch ein Schmerz über die Gewalt und Korruption im eigenen Land. Häufig wird die angespannte politische Lage thematisiert und die Ungerechtigkeit. Geringer Lohn, Inflation und Armutskreislauf sind nur ein paar der Vokabeln, die ich mir hier aus Gesprächen mitgenommen habe. Es ist ein Land der Extreme. Heiße Tage, kalte Nächte, süße Bananenchips und Limette, Mango und Hähnchen im Teigmantel, Armut und Reichtum, Salsa Paare und Guerillakämpfe.
Ich habe mich total in das Land verliebt und bin unsagbar dankbar, dass mir die Zusammenarbeit des Aguablanca-Vereins mit der Initiative Christen für Europa diesen Freiwilligendienst ermöglicht. Was für ein Privileg. Und trotzdem: manchmal steht in meinem Gehirn hier, alles Kopf. Die Wucht an neuen Eindrücken ist enorm und die kulturellen Unterschiede groß. Ich versuche Stück für Stück dieses Land besser zu verstehen (da gehört die Sprache natürlich dazu ;). Und so ein Alarmzustand im Gehirn hat auch etwas Positives. Mancher Kulturschock hilft mir, manche Vorurteile zu überdenken. Abseits von Nachrichtensendungen formt Kolumbien mein Weltbild noch einmal ganz neu. Was für eine Chance!
Umso mehr bin ich gespannt, welche bunten Erinnerungskugeln sich in den nächsten 10 Monaten noch ansammeln werden.
Mit ganz lieben Grüßen aus Kolumbien,
Sophia

